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Gesamtgesellschaftsaufgaben der Arbeitslosenversicherung oder Griff des Bundes ins Beitragssystem?

Die Leistungen der Arbeitslosenversicherung gehen weiter über die Versichertengemeinschaft hinaus und werden anders als in einer Privatversicherung nicht nur zur Schadensregulierung verwendet. So steht die Berufsberatung allen offen, egal ob man Beiträge entrichtet hat oder künftig je entrichten wird. Darüber hinaus werden aber auch vielfältige sozialstaatliche Aufgaben der Arbeitslosenkasse und den Beitragszahlern aufgebürdet, die eigentlich von allen Bundesbürgern finanziert werden müssten. Der Katalog dieser gesamtgesellschaftlichen Leistungen ist lang und reicht von den Aufwendungen der BA für Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) bis zur Finanzierung des Schulabschlusses für Arbeitslose. In 2012 mussten allein für diese Aufgaben rd. 3,4 Mrd. Euro (bzw. 10 Prozent der Gesamtausgaben der BA) bzw. mehr als ein Drittel der gesamten arbeitsmarktpolitischen Fördermittel aufgewendet werden. Ein beachtliches Beitragsvolumen wird so vom Bund zweckentfremdet.


1. Was sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben?

Der Verwaltungsrat der BA hat sich mehrfach intensiv mit der Thematik gesamtgesellschaftlicher Leistungen im Haushalt der Arbeitslosenversicherung befasst und mit großer Mehrheit auf Abgrenzungs- und Quantifizierungskriterien verständigt. Maßgeblich für die Beurteilung war zunächst die Frage, inwieweit eine Leistung an Personen gewährt wird, die Beiträge gezahlt und Ansprüche auf die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld haben. Über dieses relativ enge Versicherungsprinzip hinaus wurden auch jene Leistungen einbezogen, die eine potentielle Beitragspflicht begründen. So wurde die Berufsausbildungsbeihilfe an Auszubildende bzw. an behinderte Auszubildende der Versicherungsleistung zugeordnet, auch wenn man trefflich darüber streiten kann, ob die berufliche Erstaus-bildung Jugendlicher über Sozialbeiträge oder wie ein Studium über Steuermittel finanziert werden soll.


2. Umfang gesamtgesellschaftlicher Aufgaben in der Arbeitslosenversicherung

Orientiert nach dieser Aufgabendifferenzierung und definitorischen Festlegungen des BA-Verwaltungsrates mussten 2012 knapp 3,4 Mrd. Euro für gesamtgesellschaftliche Aufgaben aufgewendet werden. Dies entspricht einem Anteil von 9,7 Prozent der Gesamtaus-gaben bzw. 37 Prozent aller Ausgaben für aktive Arbeitsförderung im Versicherungssystem. Die Versichertengemeinschaft leistet folglich einen beachtlichen Beitrag zur Erfüllung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben; diese – dem Solidarprinzip folgenden – Leistungen gehen weit über Aufgaben eines beitragsfinanzierten Sozialversicherungssystems hinaus.
  • So sind z. B. die Ausgaben im Rahmen der Förderung von Maßnahmen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) dem gesamtgesellschaftlichen Auftrag der BA zuzurechnen. Für die individuelle Förderung von Maßnahmen in WfbM mussten 2012 allein 612 Mio. Euro aufgewendet werden und zwar für einen Personenkreis, der bisher im Regelfall nicht versicherungspflichtig war und künftig überwiegend auch nicht sein wird. Denn die Übertrittsquote aus WfbM in den allgemeinen Arbeitsmarkt liegt bei unter einem Prozent.

  • Die Leistungen der beruflichen Rehabilitation im Rahmen der Ersteingliederung von Menschen mit Behinderung, die auch für Hartz IV-Empfänger aus Beitragsmitteln finanziert werden muss, wird ebenso dem gesamtgesellschaftlichen Bereich zugeordnet; dies gilt ebenso für berufsvorbereitende Bildungsmaßnahmen, die auch für benachteiligte jugendliche Hartz IV-Empfänger von der Versichertengemeinschaft finanziert werden müssen.

  • Präventive Maßnahmen, die währen der Schulzeit durchgeführt werden und über die üblichen Beratungsleistungen der BA hinausgehen, werden gleichfalls als gesamtgesellschaftliche Leistungen angesehen – wie die 2007 neu eingeführte erweiterte vertiefte Berufsorientierung, die Berufseinstiegsbegleitung an Schulen sowie die Maßnahmen zum nachträglichen Er-werb des Hauptschulabschlusses.

Die Versichertengemeinschaft muss über die Versichertenleistungen auch diese nicht beitragsgedeckten Leistungen übernehmen. In den Vorjahren waren diese gesamtgesellschaftlichen Aufgaben zum Teil noch deutlich höher und erreichten 2009 mit 4,4 Mrd. Euro den bisherigen Höchststand. Der Anteil der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben schwankt in den letzten Jahren von mehr als einem Viertel der aktiven Arbeitsförderung bis mehr als einem Drittel. Auch in der Finanzkrise 2009/10 mit deutlich steigenden Ausgaben der Versichertengemeinschaft (insbesondere bei Arbeitslosen- und Kurzarbeitergeld) entfiel immer noch ein Anteil von 26 Prozent der aktiven Arbeitsförderung auf die gesamtgesellschaftlichen Leistungen. Trotz steigender Ausgaben der Sozialkasse für Versicherungs-leistungen muss ein wesentlicher Anteil der Arbeitsförderung für gesamtgesellschaftliche Aufgaben aufgewendet werden.


3. Verteilungswirkungen gesamtgesellschaftlicher Leistungen

Es gibt gute Gründe für diese gesamtgesellschaftlichen Leistungen, die wichtiges Element des Sozialstaates sind. Diese Leistungen gehen aber weit über die Versichertengemeinschaft hinaus und sollten daher aus dem Steuertopf finanziert werden. Vordergründig könnte man denken, es sei egal, aus welchem Topf oder welcher Tasche wir diese Leistungen bezahlen. Doch dies wäre falsch, da die Finanzierung aus Steuermitteln von einem wesentlich größeren Personenkreis erfolgt, während viele Steuerpflichtige – wie Beamte oder Selbständige – keine Arbeitslosenbeiträge zahlen müssen. Der Beitragssatz ist zudem konstant, während die Einkommenssteuern progressiv mit dem Einkommen steigen. Ferner gibt es eine sogenannte Beitragsbemessungsgrenze, oberhalb der keine Sozialbei-träge mehr entrichtet werden müssen. Zudem ist das Existenzminimum einkommenssteuerfrei, während Sozialbeiträge auch von sozialversicherten Jobs erhoben werden, die nicht existenzsichernd sind. Die Einkommenssteuer steigt mit der finanziellen Leistungsfähigkeit, während (sozialversichertes) Erwerbseinkommen konstant belastet wird. Unter Einbeziehung von Einkommen oberhalb der Beitragsgrenzen ist die Beitragsbelastung sogar eher regressiv und belastet niedrigere Einkommen in besonderer Weise. Wenn die Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen in die Versicherungssysteme verschoben wird, werden die sozialversicherten Ein-kommen in besonderer Weise belastet. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die eigentlich durch die Allgemeinheit getragen werden müssten, entlasten die finanziell breiteren Schultern der Steuerzahler und belasten den kleineren Personenkreis der Beitragszahler. Sozialbeiträge werden zweckentfremdet, wodurch die mit den Steuerreformen der letzten Jahre verbundene Umverteilung von unten nach oben fortgesetzt wird.

Bisher jedenfalls hat der Bund keinerlei Interesse, diesen nicht gerechtfertigten Griff in die Beitragszahler-Taschen zu beenden und den offensichtlichen Missstand zu beheben. So hat er bspw. – durch Weisung an die BA eine 30-jährige Praxis „auf kaltem Weg“ zu ändern – die Übernahme der Rentenversicherungsbeiträge im Eingangsbereich der Behindertenwerkstätten zu Lasten der Arbeitslosenversicherung zu ändern versucht. Auf Initiative des BA-Verwaltungsrates hat die BA erfolgreich gegen den Bund geklagt. Obwohl das Bayerische Landessozialgericht die Weisung des Bundes aufgehoben und keine Revision zugelassen hatte, wollte der Bund die Rechtslage rückwirkend ab 2008 doch noch ändern, um an das Geld der Beitragszahler zu kommen. Politische Initiativen von Vorstand und Verwaltungsrat der BA haben dazu geführt, dass die verfassungsrechtlich problematische Gesetzesnovelle zumindest nicht rückwirkend, sondern zum 1. Januar 2012 in Kraft gesetzt wurde. 120 Mio. Euro jährlich wurden so vom Steuersystem auf die Beitragszahler verlagert, während zumindest für die vier Jahre ab 2008 noch insgesamt rd. 470 Mio. Euro Rentenversicherungsbeiträge übernommen wurden.


4. Beteiligung des Bundes an der Arbeitsförderung

Der Bund macht allzu gerne eine Gegenrechnung auf und verweist auf seine „Beteiligung“ an den Kosten der Arbeitsförderung. Doch ab Beginn dieses Jahres wurden diese Mittel des Bundes ganz gestrichen und die Einnahmebasis des Versicherungssystems massiv geschwächt. Die Arbeitslosenversicherung ist erstmals in der bundesdeutschen Geschichte auf sich selbst verwiesen und muss unerwartete konjunkturelle Einschläge ausschließlich aus dem Beitragsaufkommen finanzieren. Bereits im Jahr 2006 wurde die Defizithaftung des Bundes für unerwartete konjunkturelle Risiken der Arbeitslosenversicherung abgeschafft. Gerechtfertigt wurde dies mit der ab 2007 neu eingeführten indirekten Beteiligung der Arbeitslosenversicherung am Mehrwertsteueraufkommen.

Ursprünglich hatte sich die große Koalition mit der Mehrwertsteuererhöhung um drei Prozentpunkte ab 2007 darauf verständigt, einen Beitragspunkt an die Arbeitslosenversicherung weiterzuleiten, um so die Senkung der Arbeitslosenbeiträge von der Steuerseite zu unterstützen. Diese Steuermittel (ca. 8 Mrd. Euro) sollten unmittelbar zur Beitragssenkung und zur Entlastung des Faktors „Arbeit“ bzw. der Lohnnebenkosten beitragen. Doch dieses Versprechen hat die Bundesregierung nunmehr gebrochen und stellt die Zuweisungen aus der damaligen Mehrwertsteuererhöhung ganz ein. Die Beitragssenkung wurde folglich in vollem Umfang innerhalb des Versicherungssystems realisiert. Lediglich für den Zwischenraum von 2007 bis 2012 haben diese Steuermittel die Beitragssenkung unterstützt. Eine gleichzeitige („doppelte“) Anrechnung dieses Mehrwertsteueraufkommens zur Finanzierung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben ist nicht möglich bzw. wäre unseriös. Dieser Mehrwertsteuertransfer wurde in 2012 bereits gekürzt und ab Beginn dieses Jahres ganz eingestellt.

Doch auch an anderer Stelle greift der Bund massiv in das Versicherungssystem ein und zweckentfremdet Beiträge zur Arbeitslosenversicherung. Über den vormaligen Aussteuerungs- bzw. Eingliederungsbeitrag musste die Versichertengemeinschaft ab 2005 die Hälfte der Eingliederungsleistungen für Hartz IV-Empfänger sowie anteilige Verwaltungskosten finanzieren und zwar knapp 4 Mrd. Euro pro Jahr. Diese (indirekte) Umleitung von Beitragsmitteln in den (steuerfinanzierten) Bundeshaushalt wurde von DGB und Arbeit-gebern (BDA) gleichermaßen als verfassungswidrig angesehen. Nicht zuletzt aufgrund dieser Kritik wurde diese „Zwangsabgabe“ seit Beginn dieses Jahres gestrichen. Eine Gegenrechnung der gesamtgesellschaftlichen Aufgaben der Arbeitslosenversicherung gegen in der Vergangenheit geleistete Bundesmittel ist somit nicht möglich.


5. Fazit

Die Versichertengemeinschaft muss ein beachtliches Finanzvolumen für gesamtgesellschaftliche Leistungen aufwenden. Diese Leistungen sind sinnvolle bildungspolitische bzw. sozialstaatliche Aufgaben, die jedoch weit über den Zuständigkeitsbereich eines Versicherungssystems hinausgehen. In anderen Sicherungssystemen werden diese Aufgaben zumindest teilweise über den Staatshaushalt finanziert, doch die Arbeitslosenversicherung wird hier vom Bund völlig allein gelassen und muss diese in vollem Umfang über Beiträge finanzieren. Immer wieder greift der Bund in die Beitragszahler-Taschen, um gesamtgesellschaftliche Aufgaben – wie Hilfen für staatliche Fürsorgeempfänger – den Beitragszahlern aufzubürden. Selbst Klagen und verlorene Prozesse haben den Bund bisher nicht zu einem neuen Problembewusstsein bewegen können.

Auf diese Weise treibt der Bund seine eigene Haushaltskonsolidierung voran und schränkt dadurch finanzielle Handlungsspielräume der Arbeitslosenversicherung massiv ein. Dieser Verschiebebahnhof belastet das Versicherungssystem mit bis zu 4 Mrd. Euro jährlich. Dies entspricht fast einem halben Beitragspunkt; Mittel, die anderenfalls für Leistungsverbesserungen von Arbeitslosengeldempfängern bzw. Beitragssenkungen zur Verfügung stehen könnten.

In gleichem Umfang werden die Steuerzahler entlastet und sozialversichertes Erwerbseinkommen zusätzlich belastet. Soweit gesamtgesellschaftliche Aufgaben über Sozialbeiträge finanziert werden müssen, wird von niedrigen zu höheren Einkommen umverteilt. Die Zweckentfremdung und Plünderung von Sozialbeiträgen gehen mit einer systematischen Umverteilung von unten nach oben einher.

Zugleich wird die Legitimation des Versicherungssystems geschwächt, da die Eingangshürden für einen Versicherungsanspruch (Rahmenfrist) so hoch sind, dass viele vormalige Beitragszahler bei eintretender Arbeitslosigkeit finanziell leer ausgehen und keine bzw. keine existenzsichernden Ansprüche der Arbeitslosenversicherung erwerben konnten. Immer wieder müssen die engen finanziellen Handlungsspielräume dafür herhalten, eine bessere Einbeziehung von befristet und prekär Beschäftigten in den Versicherungsschutz zu verhindern, die aber zuvor über ihre Sozialbeiträge diese gesamtgesellschaftlichen Aufgaben mitfinanzieren mussten.

Nicht einmal ausreichende Rücklagen kann die Arbeitslosenversicherung aufbauen, um ihre wichtige antizyklische Stabilisierungs-funktion wahrnehmen zu können. Wie notwendig eine Rücklage ist, zeigt die letzte Finanzkrise, in der der Bund die Banken mit Milliarden gestützt hat, die Arbeitslosenversicherung aber eine Beitragsrücklage von 18 Mrd. Euro zur Stabilisierung der Konjunktur und der arbeitsmarktpolitischen Folgen der Finanzkrise eingesetzt hat.

Trotz guter Konjunktur der letzten Jahre hat die Arbeitslosenversicherung nur eine Rücklage von 2,5 Mrd. Euro aufbauen können, die in 2013 weiter abschmelzen wird. Ursprünglich hat die BA für dieses Jahr mit knapp einer Milliarde Euro Defizit kalkuliert, das jedoch wegen relativ günstiger Rahmendaten etwas niedriger ausfallen dürfte. Durch den massiven Entzug von Bundesmitteln bleibt die Arbeitslosenversicherung aber in den roten Zahlen.

Ökonomisch und verteilungspolitisch dringend erforderlich ist es, den problematischen Verschiebebahnhof zu Lasten der Versichertengemeinschaft zu beenden. Das beitragsfinanzierte System muss dringend entlastet und die gesamtgesellschaftlichen Aufgaben endlich über Steuermittel des Bundes finanziert werden. In einem ersten Schritt sollte der Bund zumindest die Aufwendungen für Menschen in Behindertenwerkstätten übernehmen sowie die Fördermaßnahmen für Hart IV-Empfänger, soweit diese bisher von der Versichertengemeinschaft getragen werden müssen.


Quelle: Dr. Wilhelm Adamy, Abteilungsleiter Arbeitsmarktpolitik beim DGB


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Schlagworte zu diesem Beitrag: Öffentliche Beschäftigungspolitik
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 09.10.2013