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Forschen und Lehren ohne Sicherheit

Dass Bildung eine Schlüsselrolle für die gesellschaftliche Entwicklung spielt, gehört zu den Gemeinplätzen in öffentlichen Debatten. Betont wird in der Regel der ökonomische Nutzen von Qualifikation. Auch wenn es um die Vermittlung von Bildung geht, um die Organisation von Lehre und Unterricht, hat das Denken in wirtschaftlichen Kategorien Einzug gehalten. Karin Lohr, Thorsten Peetz und Romy Hilbrich sprechen von einer zunehmenden Ökonomisierung des Bildungssystems. Gefördert durch die Hans-Böckler-Stiftung haben die Soziologen von der Berliner Humboldt-Universität und dem Institut für Hochschulforschung Halle-Wittenberg untersucht, was diese Entwicklung für die Arbeitsbedingungen von Lehrern und Dozenten bedeutet. Ihre Analyse basiert auf Fallstudien an jeweils vier Gymnasien, Universitäten und in der beruflichen Weiterbildung. Dafür haben sie Dokumente ausgewertet und Interviews mit insgesamt 87 Führungskräften, Arbeitnehmervertretern und Beschäftigten geführt.


Schulen:Dominierend in der schulischen Reformdebatte ist den Forschern zufolge die Idee der Schulautonomie, also die Verlagerung von Zuständigkeiten für Personal, Sachmittel oder Unterrichtsorganisation auf die einzelnen Schulen. Rechtlich laufe diese Idee auf eine Stärkung der Schulleiter hinaus, deren Selbstbild sich gewandelt habe - vom "primus inter pares" zum entscheidungsorientierten Manager. Die Verpflichtung zur Entwicklung von Schulprogrammen, die Eltern die Auswahl einer Schule erleichtern sollen, sehen die Autoren als Beitrag zur Etablierung von Quasi-Märkten. "Die Schulen sehen sich vermehrt in einem Wettbewerb um Schüler, sie ,messen' ihren Erfolg in der Höhe der Anmeldezahlen", schreiben sie. Allerdings sei die konkrete Arbeit im Klassenraum von Wettbewerbsdruck noch relativ unberührt: Bei der Unterrichtsgestaltung orientiere sich keiner der befragten Lehrer an der Logik des Marktes. Als Einschränkung empfinden die Pädagogen vor allem die zeitliche Überlastung durch zusätzliche bürokratische Aufgaben und gestiegene Klassengrößen. Darüber hinaus kritisieren viele die Zunahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse: Immer mehr befristete Anstellungen führten zu Spannungen.


Universitäten: Auch im Hochschulbereich stellen Lohr, Peetz und Hilbrich eine Veränderung fest, die dem Leitbild der "unternehmerischen" Universität folgt. Die Länder hätten zahlreiche Zuständigkeiten auf die Universitätspräsidenten übertragen, die sich wie die Schulleiter zunehmend als Manager verstehen. Im Rahmen von Globalhaushalten hätten die Hochschulleitungen erhebliche Entscheidungsspielräume über Personal- und Sachmittel. Kontrolle finde vermehrt in Form von Zielvereinbarungen statt. Die Finanzierung folgt in Teilen bereits einer Wettbewerbslogik: Wie viele Landesmittel sie erhalten, hänge bei den untersuchten Hochschulen zum Teil davon ab, wie sie bei Indikatoren für Forschung, Lehre oder Gleichstellung abschneiden. Solche Finanzierungsmodelle reduzieren jedoch die Planungssicherheit und führen zu einer zunehmenden "Prekarisierung" der Stellenstruktur, so die Analyse der Wissenschaftler. Die Mitarbeiter an Universitäten müssten nicht nur befristete Beschäftigungsverhältnisse, sondern auch erhebliche Arbeitsbelastungen in Kauf nehmen: "Das systematische und dauerhafte Überschreiten der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit stellt eine selbstverständliche Arbeitsanforderung für die Beschäftigten dar."


Weiterbildung: Für die Situation der Erwachsenenbildung waren die Hartz-Reformen ein entscheidender Wendepunkt, konstatieren die Forscher. Die Einführung von Bildungsgutscheinen und neue Finanzierungsrichtlinien für Weiterbildungsmaßnahmen hätten den Wettbewerb zwischen den Anbietern erheblich verschärft - vor allem den Preiswettbewerb. Dabei seien die Gesamtausgaben für Weiterbildung seit 1995 erheblich gesunken. Die Folge: Allein 2003 hätten die großen Anbieter zwischen 20 und 43 Prozent ihres Personals abgebaut. Der Wettbewerbsdruck habe aus der Weiterbildung eine "Enklave des Wirtschaftssystems im Bildungssystem" gemacht. Wegen fehlender Planungssicherheit könne sich kein Bildungsträger erlauben, viele Festangestellte zu haben. Beschäftigte klagen über Stress, Unsicherheit und abnehmende Gestaltungsspielräume bei der Lehre. Ansprüche an "gute Bildung" würden von ihnen zwar aufrechterhalten, gerieten aber zunehmend unter Druck.


Quelle: Böckler Impuls 9/2013


Schlagworte zu diesem Beitrag: Lebenslanges Lernen
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 24.05.2013