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Berufs-Bildungs-Perspektiven 2012

Inklusion statt Exklusion – Gute Bildung für gute Arbeit!

Dass es zwischen Bildung und wirtschaftlichem Erfolg einen messbaren Zusammenhang gibt, gilt heute als gesichertes Wissen: Staaten mit einem hohen Bildungsstand ihrer Bevölkerung erwirtschaften in der Regel auch ein hohes Bruttosozialprodukt. Dass sich Investitionen in die nationalen Bildungssysteme im Sinne einer „Bildungsrendite“ rechnen, gilt längst als ausgemacht. Internationale Organisationen wie die OECD und die Europäische Kommission haben in zahlreichen Studien und Aufrufen seit den 1960er Jahren immer wieder auf diesen Zusammenhang hingewiesen. Es fehlt dort allerdings auch nie der Hinweis, dass das deutsche Bildungssystem in vielerlei Hinsicht hinter den Möglichkeiten einer hochentwickelten Volkswirtschaft zurückbleibt.

Was auf der gesellschaftlichen Ebene zu beobachten ist, findet sich auf der individuellen Ebene zwangsläufig wieder. Wir kennen dies aus den alltäglichen Debatten: Wo in Bildung nicht investiert wird, Zugänge zu Bildung nicht eröffnet werden, entstehen zunehmend „Gerechtigkeitslücken“. Es wird für die Einzelnen und ihre Familien immer schwerer mitzuhalten – zumal bei ungesicherten, „prekären“ Beschäftigungsbedingungen. Gute Arbeitsverträge, ein angemessenes Ein- und Auskommen sind in der Regel an ein gutes Bildungsniveau, an gute Schul- oder Berufsabschlüsse und an Chancen für Bildung in der Arbeit gebunden: Sie garantieren sie zwar nicht, sind aber ihre notwendige Voraussetzung. Unter prekären Bildungs- und Arbeitsbedingungen sind diese Voraussetzungen in aller Regel aber nicht gegeben, ist der Anschluss immer weniger zu halten.

Im Zusammenhang mit der PISA-Diskussion wird immer wieder betont, wie hochgradig selektiv das deutsche Bildungssystem wirkt, das im bürgerlichen Milieu weiterhin als bewährt und bewahrenswert dargestellt wird. Tatsächlich versperrt es bereits frühzeitig die Zugänge zu Bildung, anstatt sie zu öffnen. So ist beispielsweise die Chance eines Kindes aus einem Arbeiterhaushalt, auf ein Gymnasium zu gehen, viermal geringer als die eines Kindes aus einem Akademikerhaushalt. Dieses Phänomen der sozialen – statt wirklich leistungsgerechten – Auslese findet sich auf allen Bildungsstufen und in allen Teilen des deutschen Bildungssystems. Auch das sind keine neuen Erkenntnisse; bedenklich ist aber vor allem, dass nach vielen Jahrzehnten aller möglichen Bildungsreformen die vertikale Ungleichheit mit ihren schwerwiegenden Ausgrenzungstendenzen eher wieder zugenommen hat, als dass sie auch nur tendenziell behoben worden wäre. Auch wenn in Deutschland insgesamt immer höhere Bildungsabschlüsse erworben werden, ist also soziale Ungleichheit nach wie vor das bestimmende Merkmal unseres Bildungssystems.

Die ungleichen Chancen sozial benachteiligter Bevölkerungsgruppen beginnen beim Eintritt in die Bildungsinstitutionen, in die Kindertagesstätte und die Schule, verstärken sich an der ersten und zweiten Schwelle des Eintritts in die duale Ausbildung und in das Beschäftigungssystem. Dazwischen hat sich mittlerweile ein Paralleluniversum von Warteschleifen in einem „Übergangssystem“ etabliert, das alles andere als ein System und systematisch ist, in dem weit über 300.000 Jugendliche unter 25 Jahren geparkt werden. Tatsächlich wirken die dort verbrachten „Warteschleifen“ aller möglichen Art ihrerseits diskriminierend, wenn nicht gar stigmatisierend, indem sie unter der Hand „mangelnde Ausbildungsreife“ attestieren, statt ausgleichend, „kompensatorisch“, zu wirken.

Wer früh von Bildung ausgeschlossen wird, hat dann auch im Arbeitsleben kaum eine Chance auf nachholende Qualifizierung: Der Ausschluss von den vorgelagerten Bildungsstufen setzt sich in geringen Chancen auf Weiterbildung während der Erwerbstätigkeit fort. Denn die meisten Weiterbildungsangebote der Betriebe richten sich an deren Kernbelegschaften. Untersuchungen zur Situation der betrieblichen Weiterbildung und Studien zum Weiterbildungsverhalten belegen immer wieder, dass Weiterbildungschancen eng an Erwerbstätigkeit gebunden sind und in der Erwerbstätigkeit mit der einmal erreichten Qualifikation und der Stellung im Beruf steigen: Betriebliche Weiterbildung wendet sich fast ausnahmslos an bereits qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – und dies umso mehr, je höher sie in der Hierarchie des Betriebs verortet sind.

Das gilt aber nicht nur für die formalisierte Weiterbildung, wie sie in Kursen und Seminaren angeboten wird. Den nicht zu den qualifizierten Stammbelegschaften zählenden Beschäftigten werden auch die Chancen vorenthalten, sich während der Arbeit weiterzubilden. Ihnen bieten sich kaum Gelegenheiten, während des Arbeitens zusätzlich etwas zu lernen, weil die in der Regel wenig lernförderlichen Arbeitsbedingungen Lernen und Lernerfolgserlebnisse von vorneherein eher ausschließen, als dass sie sie beförderten.

In betrieblichen Bildungsprozessen, so lassen sich die empirisch vielfach gesicherten Erkenntnisse zusammenfassen, sind gerade diejenigen ausgeschlossen, die bereits in Schule und Erstausbildung Schwierigkeiten hatten oder benachteiligt wurden – und die eigentlich das Potenzial darstellen, mit dem die oft und immer wieder beschworene Facharbeiterlücke der Zukunft geschlossen werden könnte. Andererseits wird Qualifizierung den Einzelnen umso eher zuteil, je stärker sie in relativ „normale“ und vergleichsweise gute Arbeitsverhältnisse integriert sind. Weiterbildung sichert das Schritthalten mit den technischen Entwicklungen, eröffnet Berufschancen und erhöht das Potential, sich auf wechselnde und immer neue Arbeitssituationen einstellen zu können, sinnvolle Arbeit und berufliches Fortkommen zu erleben oder Qualifikationsentwertung und beruflichen Abstieg zu vermeiden. Qualifizierung erhöht die Chancen auf Mitbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe, schafft Handlungsspielräume für einen erwünschten oder erforderlich gewordenen Arbeitsplatz-, Betriebs- oder Berufswechsel und sichert so schließlich auch ein Stück persönlicher Unabhängigkeit im Berufsleben. Arbeitslosen und Arbeitsuchenden eröffnet sie die Chance, in ein reguläres Arbeitsverhältnis einzutreten und dauerhafter Ausgrenzung aus dem Erwerbsleben entgegenzuwirken.

Für prekär Beschäftigte sind solche Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote die seltene Ausnahme: Prekäre Bildung schafft prekäre Arbeit. Und prekäre Arbeit schafft prekäre Bildung. Dass diese Zustände alles andere als gerecht sind, liegt auf der Hand. Es geht darum, soziale Gerechtigkeit herzustellen, Exklusion zu verhindern und Inklusion zu befördern.


Berufs-Bildungs-Perspektiven 2012; Gute Bildung für gute Arbeit


Die vollständige Ausgabe der Berufs-Bildungs-Perspektiven 2012 können sie hier als pdf-Datei herunterladen.


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Schlagworte zu diesem Beitrag: Weiterbildung
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 29.02.2012