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Prekäre Arbeit

Ursachen – Folgen – Handlungsmöglichkeiten

Prekäre Beschäftigung und Tarifpolitik

Risiken und Nebenwirkungen prekärer Beschäftigung


Wer sich mit tarifvertraglichen Regelungen im Bereich prekärer Beschäftigung befassen will, muss zunächst die Risiken der von prekärer Arbeit Betroffenen und die Auswirkungen prekärer Beschäftigung auf die Tarifstandards von in gesicherten Beschäftigungsverhältnissen Erwerbstätigen betrachten. Wer sich mit prekärer Beschäftigung auseinandersetzen will, muss beide Aspekte betrachten. Die unmittelbare Verbesserung der Arbeits- und Einkommensverhältnisse von prekär Beschäftigten hat Auswirkungen auf die Tarifpolitik insgesamt und berührt nicht zuletzt Fragen der einheitlichen Interessenvertretung im Betrieb und der Gewerkschaftspolitik im Allgemeinen, so Bispinck.

Das Hauptproblem prekärer Arbeit betrifft die geringe Qualität und die Instabilität der Beschäftigungsverhältnisse. Wer befristet beschäftigt ist und womöglich noch von kurzen Kündigungsfristen betroffen ist, hat keine Möglichkeit, seine Erwerbsbiografie und seine allgemeine Lebensplanung zu gestalten. Hier sieht Bispinck den Kern des Problems, noch vor den eigentlichen Arbeits- und Einkommensbedingungen.

Bei den Einkommensbedingungen sind prekär Beschäftigte doppelt diskriminiert. Sie erhalten bei gleicher Arbeit üblicherweise einen geringeren Lohn. Das betrifft nicht nur Leiharbeiter, dass betrifft häufig auch Teilzeitbeschäftigte, die unter Tarifverträge fallen, in denen steht: „Teilzeitbeschäftigte sind anteilig zu bezahlen.“ Zudem fehlt es häufig an einer Stetigkeit des Einkommens, die Lebensplanung erst ermöglicht.

Bei den Arbeitsbedingungen sticht das Problem der Arbeitszeit besonders ins Auge. Da Minijobber oder geringfügig Teilzeitbeschäftigte vergleichsweise geringere Arbeitszeiten haben, wird ihnen von Seiten der Betriebe häufig ein hohes Maß an Flexibilität abgefordert. Die Lage der Arbeitszeit schwankt häufig von Woche zu Woche, die Betroffenen müssen ihre Lebensplanung „am Betrieb“ ausrichten.

Doch selbst wenn es gelingt, einzelne Formen prekärer Beschäftigung besser zu regulieren, bleibt ein Hauptproblem ungelöst. Was muss geschehen, damit prekär Beschäftigte im Laufe ihres Erwerbslebens aus diesen Beschäftigungsverhältnissen herauskommen? Wie kann eine Beschäftigungsperspektive entwickelt werden, die Entwicklungsperspektiven bietet und Aufstiegsmöglichkeiten in reguläre Arbeitsverhältnisse ermöglicht? Kann und wenn ja wie kann die Tarifvertragspolitik hier helfen?

Bei den Auswirkungen auf die Tarifstandards regulär Beschäftigter geht es insbesondere um zwei Aspekte. Prekäre Beschäftigung ist das Haupteinfallstor zur Erosion von Tarifstandards. Immer dann, wenn in einem Betrieb ungleiche Beschäftigungsverhältnisse existieren, wird Druck auf die regulären Tarifstandards der gesicherten Beschäftigungsverhältnisse ausgeübt. Prekäre Beschäftigung wird genutzt, reguläre Tarifstandards anzugreifen und gegebenenfalls abzusenken.

Prekäre Beschäftigung führt außerdem zu einer Spaltung der Belegschaften. Sie führen zu Konkurrenzen zwischen einzelnen Beschäftigtengruppen innerhalb der Betriebe und berühren damit die Arbeit betrieblicher Interessenvertretungen. „Es ist ja nicht so, als wenn da eitel Wonne und Sonnenschein wäre und alle betrieblichen Interessenvertretungen sich immer und ausschließlich als Interessenvertretung der gesamten Belegschaft verstehen würden,“ so Bispinck. Es gibt Betriebsräte, die Leiharbeit unter dem Aspekt der Kostenverhältnisse als vorteilhaft für die Stammbelegschaften ansehen. Das führt zu Konflikten und hat Folgewirkungen auf die Tarifpolitik im ganzen Unternehmen.


Regelungsdimensionen, die tarifvertraglich bearbeitet werden können

Welchen Beitrag kann die Tarifpolitik leisten, um prekäre Arbeitsverhältnisse insgesamt zu begrenzen? Hier sieht Bispinck drei aufeinander abgestufte Handlungsfelder.
  • Inwieweit können Tarifverträge dazu beitragen, bestimmte Beschäftigungsverhältnisse erst gar nicht entstehen zu lassen?

  • Wie können bestehende prekäre Arbeitsverhältnisse tarifvertraglich besser ausgestaltet werden?

  • Können und sollen für bestimmte Beschäftigtengruppen in prekären Arbeitsverhältnissen (z. b. im Niedriglohnsektor) eigenständige Tarifverträge angestrebt werden.

Wer die Tarifverträge durchsieht, der findet fast nirgendwo Regelungen, die prekäre Beschäftigung eingrenzen. Die in letzter Zeit abgeschlossenen Verträge der IG Metall zur Leiharbeit (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) bewegen sich auf der Ebene von Betriebsvereinbarungen. In Tarifverträgen finden sich dazu keine Regelungen. Eine Ausnahme bildet hier der TV-L, der vorsieht, dass befristet Beschäftigte bei der Besetzung von Dauerarbeitsplätzen bevorzugt berücksichtigt werden müssen. Solche Regelungen können BR und PR helfen, bei der Besetzung von freien Stellen prekär Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnisse zu bringen.

Bei der Ausgestaltung prekärer Beschäftigungsverhältnisse im Rahmen von Tarifverträgen fallen einige Aspekte besonders auf.

Da sind zunächst die Regelungen über das Entgelt. Das betrifft insbesondere Teilzeitbeschäftigte und Minijobber. Alle Regelungen, die sich in Tarifverträgen dazu finden, gehen davon aus, das Beschäftigte mit geringerer Stundenzahl anteilig wie regulär Beschäftigte zu entlohnen sind. Bei manchen Beschäftigungsverhältnissen funktioniert die Regelung aber trotzdem nicht. Gerade der Wegfall der Stundenbegrenzung bei Minijobbern hat dazu geführt, dass tarifliche Regelungen unterlaufen werden. Die tarifliche Regelung alleine reicht offensichtlich nicht aus.

Bei den Regelungen zur Entlohnung fällt eine Gruppe der prekär Beschäftigten besonders auf, die „Generation Praktikum“. Auch da gibt es tarifliche Regelungen zur Entlohnung, z. B. im öffentlichen Dienst oder in der Land- und Forstwirtschaft. Wenn Regelungen vorhanden sind, orientieren sie sich häufig an den Entgelten für Auszubildende. Doch hier wird besonders deutlich, dass es letztlich ohne eine gesetzliche Regelung auf einen Vergütungsanspruch von Praktikanten/innen keine befriedigende Lösung geben wird – auch wenn es möglich ist, das Thema in Tarifverhandlungen aufzugreifen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Regelung der Arbeitszeit. Hier finden sich in der Regel keine tarifvertraglichen Regelungen für prekär Beschäftigte. Eine Ausnahme bilden Regelungen im Rahmen der Teilzeitarbeit, die insbesondere im Handel verbreitet sind. Diese Regelungen sollten das Streben der Arbeitgeber, die Arbeit in viele, kleine Teilzeitarbeitsplätze aufzuspalten, begrenzen. Tarifvertragliche Regelungen über Mindestarbeitszeiten pro Tag und in der Woche, wie sie im Einzelhandel in NRW vereinbart wurden, haben sicherlich ein qualitatives Mindestniveau an Arbeitsbedingungen abgesichert. Aber auch dieser Tarifvertrag enthielt bereits Öffnungsklauseln, nachdem Abweichungen möglich waren, wenn betriebliche Belange oder Wünsche der Beschäftigten dies erforderten. Der Vertrag hat die Tendenz zu kleinteiliger Teilzeitarbeit nicht wirksam verhindert. Tarifliche Regelungen allein können kleinteilige Teilzeitarbeit nicht aufhalten – aber in den meisten Tarifverträgen findet sich nicht einmal eine Regelung zur Ausgestaltung von Teilzeitarbeitsverhältnissen.

Bei der Durchsicht der Tarifverträge fällt noch ein weiterer Aspekt auf. Prekäre Beschäftigung betrifft häufig geringqualifizierte Erwerbstätige. Das Thema Geringqualifizierte wird in Qualifizierungstarifverträgen fast gar nicht thematisiert. Tarifvertragliche Regelungen könnten hier helfen, prekär Beschäftigten durch die Teilnahme an beruflicher Weiterbildung neue Perspektiven zu eröffnen. Gerade bei der Qualifizierung müssten Tarifverträge prekär Beschäftigte viel systematischer berücksichtigen.

Beim Thema spezielle Tarifverträge für prekär Beschäftigte fallen zunächst zwei Tarifverträge aus dem Organisationsbereich von ver.di auf. Da ist zum einen der Tarifvertrag für Zeitungszusteller, der z. T. mit Arbeitskämpfen erstritten wurde. Und da ist der Tarifvertrag für studentische Beschäftigte in Berlin. Beide Gruppen stehen nicht im Zentrum der gewerkschaftlichen und tarifpolitischen Aufmerksamkeit. Beide Beispiele zeigen, dass es möglich ist, für prekär beschäftigte Gruppen tarifliche Regelungen zu erstreiten, wenn ein Problemdruck und die Kampfbereitschaft der Betroffenen in der Gewerkschaft vorhanden sind.

Eine Gruppe ist in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren besonders in das Blickfeld gewerkschaftlicher Tarifpolitik geraten: Die Leiharbeitnehmer/innen. Im Rückblick stellt sich die Frage, ob es nicht ein strategischer Fehler der Gewerkschaften war, mit dem Gesetzgeber den Deal zu vereinbaren, der da lautet: Die gesetzliche Regelung zur Arbeitsnehmerüberlassung lautet „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Das kommt aber nur in das Gesetz, wenn ihr gleichzeitig zustimmt, von der Regel durch den Abschluss von Tarifverträgen abweichen zu können.

Die Regelung wurde von den christlichen Gewerkschaften und Arbeitgebern sehr schnell genutzt, um Dumpingtarifverträge abzuschließen. Das Ergebnis seht ihr in der Tabelle zu den untersten Lohngruppen in der Zeitarbeit und einigen ausgewählten Branchen. Am untersten Ende der Skala liegen die Tarife der christlichen Gewerkschaften, die Tarife der zwischen den Zeitarbeitsverbänden BZA und IGZ und dem DGB abgeschlossenen Verträge liegen erkennbar darüber. Branchentarifverträge haben in vielen Fällen deutlich höhere tarifliche Grundvergütungen. Bis heute ist es nicht gelungen, die Tarifverträge des DGB in der Zeitarbeit für allgemeinverbindlich zu erklären.

Die DGB-Tarifgemeinschaft hat den Versuch gemacht, die Lohnunterschiede durch die Vereinbarung über Branchenzuschläge zu reduzieren. Das ist am Widerstand der Arbeitgeber gescheitert. Jetzt wird versucht, über firmenbezogene Ergänzungstarifverträge zumindest innerbetrieblich die Lohnschere zwischen Leiharbeitnehmer/innen und den Stammbelegschaften zu reduzieren. Die IG Metall hat Ergänzungstarifverträge mit BMW und Audi abgeschlossen, die eine deutliche Lohnanhebung der dort beschäftigten Zeitarbeiter/innen vorsieht. Eine Lücke bleibt jedoch bestehen. Die übrigen Arbeitsbedingungen werden von diesen Ergänzungstarifverträgen nicht erfasst. Der Weg, über firmenbezogene Ergänzungstarifverträge bessere Bedingungen in der Zeitarbeit durchzusetzen, ist mühsam, so Bispinck. Dazu kommt, dass die Mehrzahl der Betriebe kleine und mittelgroße Unternehmen sind. Da ist der Erfolg dieser Strategie ungleich schwieriger zu erreichen.

Die Bestandsaufnahme tarifvertraglicher Regelungen wäre unvollständig, ohne einen Blick auf die Tariflandschaft insgesamt zu richten. Die Bindungs- und Gestaltungskraft von Tarifverträgen nimmt seit Jahren ab. Die Tarifbindung von Firmen und Beschäftigten sinkt seit Jahren. Dazu kommt die Fragmentierung von Tarifverträgen. 2007 waren in Westdeutschland 63 % und in Ostdeutschland 54 % der Beschäftigten durch Tarifverträge geschützt. Die Tarifbindung der Unternehmen ist deutlich geringer. Im Westen waren 39 % und im Osten gar nur 24 % alle Betriebe tarifgebunden. Der Grund ist klar. Großbetriebe sind häufig gewerkschaftlich gut organisiert und überwiegend tarifgebunden. Kleine Unternehmen mit bis zu 50 oder 100 Beschäftigten haben eine deutlich geringere Tarifbindung.

Tarifverträge haben nur eine begrenzte Regelungskraft. Daher bedarf es zusätzlicher Instrumente, um die Regelungskraft von Tarifverträgen zu erweitern.


Grenzen tarifpolitischer Eingrenzung von prekärer Beschäftigung

Das klassische Instrument gegen Lohndumping und Schmutzkonkurrenz und gegen die Ausbreitung prekärer Arbeitsbedingungen stellt die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen dar. Die Zahl der davon betroffenen Tarifverträge geht deutlich zurück, heute sind gerade noch 1,5 % der Tarifverträge davon betroffen. Im Kernbereich, bei der Lohn- und Gehaltsfestsetzung, sind nur noch die Branchen „Überwachung, Friseurhandwerk und Hotel- und Gaststätten“ davon erfasst. Und auch die sind nicht bundesweit, sondern regional unterschiedlich geregelt. Geschuldet ist das der Blockadehaltung der Arbeitgeber im Tarifausschuss, dessen Zustimmung für eine Allgemeinverbindlicherklärung zwingend vorgeschrieben ist.

Jetzt soll versucht werden, mit einer Erweiterung des Arbeitnehmerentsendegesetzes für mehrere Branchen Niedriglöhne einzugrenzen. Doch auch hier bestehen hohe Hürden, um eine Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge zu erreichen. Auch hier müssen für 50 % der Beschäftigten einer Branche Tarifverträge bestehen, damit diese für allgemeinverbindlich erklärt werden können.

Das Hauptproblem in Bezug auf prekäre Beschäftigung sind die z. T. vorhandenen tariflichen Armutslöhne. Es nützt nicht viel, wenn diese Löhne auch noch für allgemeinverbindlich erklärt werden. Es gibt eine Reihe gültiger Tariflöhne, die deutlich unter dem seit Jahren geforderten 7,50 Euro für den Mindestlohn liegen. Ohne einen gesetzlichen Mindestlohn wird in diesen Bereichen das Problem prekärer Beschäftigung kaum lösbar sein.


Anforderungen und Perspektiven der Tarifpolitik bei prekären Beschäftigungsverhältnissen

Zunächst sollte man die Tarifverträge Branche für Branche hinsichtlich der Regelungen in Bezug auf prekäre Arbeitsverhältnisse abklopfen, so eine Art prekärer Arbeitstüv. Danach sollten die in der Bestandsaufnahme gefundenen Problembereiche bei der Entwicklung konkreter Tarifforderungen in den Branchen Berücksichtigung finden. Einen Mustertarifvertrag für prekäre Beschäftigung wird es nicht geben, dazu sind die Problembereiche in den einzelnen Branchen zu unterschiedlich.

Wenn die wesentlichen Regelungsbereiche für Mindestanforderungen der Beschäftigten geklärt sind (Entlohnung, Arbeitszeit, Qualifizierung), müssen die Forderungen um zwei weitere Punkte ergänzt werden, so Bispinck. Es handelt sich um die Beteiligungsrechte der prekär Beschäftigten und die Einbeziehung der betrieblichen Interessenvertretungen (BR und PR) bei der Durchsetzung von tariflichen Regelungen.

Dann ist eine Stabilisierung des Tarifsystems insgesamt anzustreben. Um das zu erreichen, sollte der ausschließliche Branchenbezug der Gewerkschaften aufgegeben werden. Es macht wenig Sinn, unkoordiniert nebeneinander her eine Fülle tarifpolitischer Kleinprojekte zu fahren, die beim gegenwärtigen Kräfteverhältnis und den Durchsetzungsmöglichkeiten der Gewerkschaften Gefahr laufen, irgendwie zu versanden. In der öffentlichen Debatte muss ein Regelungsdruck erzeugt werden, der es erlaubt, Branche für Branche bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Auch das Thema Leiharbeit sollte so branchen- und gewerkschaftsübergreifend behandelt werden.

Die Beseitigung prekärer Arbeit allein über das Mittel der Tarifvertragspolitik erreichen zu wollen, ist kein sinnvolles Ziel. Ein realistisches Ziel ist es dagegen, das Regelungspotential besser als bisher geschehen auszuschöpfen.


Der Artikel ist eine Zusammenfassung des Vortrags von Dr. Rainer Bispinck,
Leiter des Tarifarchivs des WSI, den er auf der Fachtagung gehalten hat.

Die vollständige Dokumentation können Sie hier als pdf-Datei herunterladen.


Verweise zu diesem Artikel:
Schlagworte zu diesem Beitrag: Honorar, Mindestlohn, Prekäre Arbeit
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 11.09.2009