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Linksfraktion zum DQR - "Bildungspolitik im Hinterzimmer"

Bund und Länder erarbeiten einen Qualifikationsrahmen für Deutschland - die Linksfraktion hat die Debatte mit einem Fachgespräch in die Öffentlichkeit gebracht. Qualifikationsrahmen - das klingt bürokratisch, sperrig, langweilig. Doch kaum jemand weiß, was sich hinter dieser Debatte wirklich verbirgt. Am morgigen Dienstag gibt es eine weitere Sitzung in Berlin. Es zeichnet sich jetzt schon ab, dass es eine kontroverse Diskussion geben wird.

Alle Qualifikationen, die in Schulen, Hochschulen, Betrieben oder sonstigen Einrichtungen erworben werden, sollen künftig in diesen Rahmen eingeordnet werden. Bereits in diesem Herbst wollen Bund und Länder das grobe Raster hierfür festzurren. Die Folgen sind unüberschaubar: Übergänge im Bildungssystem werden von der Einordnung einzelner Abschlüsse oder Kompetenzen in das Rahmenwerk abhängen, die Anerkennung von Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt soll sich hiernach richten und sicher wird sich die Bewertung von Qualifikationen der Erwerbstätigen auch auf künftige Tarifverhandlungen auswirken.

Wie kann es sein, dass eine solche Debatte in einem Arbeitskreis von Bundes- und Landesregierungen hinter verschlossenen Türen geführt wird? Die Fraktion DIE LINKE hat die Initiative selber in die Hand genommen und Bildungspolitik, Forschung, Arbeitgeber und Gewerkschaften an einen Tisch geholt und nach Kontroversen und Risiken der aktuellen Debatte gefragt. Neben zehn ExpertInnen und einigen Gästen haben an dem Fachgespräch Abgeordnete der LINKEN aus dem Bundestag sowie aus vier Landesparlamenten teilgenommen. Die Runde hat gezeigt: Eine breite Debatte zu diesem Thema ist überfällig, unzählige Fragen sind ungeklärt, mögliche negative Folgen der Einführung eines Qualifikationsrahmens werden bislang unter den Tisch gekehrt.

Dr. Harry Neß vom Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) warnte, unter dem von der Bundesregierung gesetzten Zeitdruck werde der Qualifikationsrahmen das Reformpotential, das in ihm stecke, kaum einlösen können. Hermann Nehls vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) wurde noch deutlicher: Es drohe die Gefahr, dass der Qualifikationsrahmen Bildungsbarrieren nicht abbauen, sondern zementieren wird. Auch Dr. Stephan Pfisterer vom Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) warnte davor, die Versäulung des Bildungssystems in den beruflichen und den akademischen Bereich unverändert in den Qualifikationsrahmen zu übertragen - dieser lohne sich im Gegenteil nur dann, wenn er für weitreichende bildungspolitische Fortschritte genutzt werde. Steffen Bayer vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) warnte davor, einzelne Stufen faktisch für AkademikerInnen zu reservieren: Es wäre fatal, immer mit der Hochschulbrille auf bestimmte Qualifikationsniveaus zu schauen, stattdessen müsse die Durchlässigkeit von beruflicher und akademischer Bildung zur Selbstverständlichkeit werden.

Während Jan Rathjen von der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) die Erarbeitung des Qualifikationsrahmens bereits jetzt als Erfolg beschrieb, weil die verschiedenen Bildungsbereiche überhaupt mal miteinander ins Gespräch gekommen seien und hierbei viel voneinander lernen könnten, übte Anja Gadow für den freien zusammenschluss von studentInnenschaften (fzs) an der bisherigen Debatte scharfe Kritik: Was wir bisher erlebt haben sei vor allem Hinterzimmerpolitik - damit die Bildungsbereiche wirklich aufeinander zugehen und die Durchlässigkeit erhöhen könnten, sei eine transparente Debatte aber unverzichtbar. Bislang allerdings, hierauf wies Klaus Heimann von der IG Metall hin, scheint selbst die Einbindung der Sozialpartner in die Entwicklung des Rahmens eher einem Konsultationsprozess zu gleichen als einer ernst zu nehmenden Mitbestimmung.

Brigitte Schinder von der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholischer Jugendsozialarbeit (BAG KJS) plädierte dafür, einen stärkeren Blick für das untere Ende des Qualifikationsrahmens zu entwickeln: Nach dem aktuellen Stand der Debatte würden jedes Jahr acht Prozent der Jugendlichen die Schule verlassen, ohne überhaupt von dem Rahmen erfasst zu werden, weil sie keinen qualifizierten Hauptschulabschluss erworben haben. Bisher sieht niemand darauf, welche Kompetenzen diese Jugendlichen haben. Sie aufgrund des fehlenden formalen Schulabschlusses komplett aus dem Rahmen fallen zu lassen, könnte Benachteiligungen verschärfen, statt ihnen entgegen zu treten. Völlig unklar ist in der bisherigen Diskussion auch geblieben, welchen Weg zum Beispiel StudienabbrecherInnen im Qualifikationsrahmen gehen, oder wo das Übergangssystem der beruflichen Bildung eingeordnet werden kann. Gerade für diese Gruppen ist jedoch die Anerkennung ihrer Kompetenzen eine zentrale Voraussetzung, damit ihre Bildungswege keine Sackgassen werden.

Für DIE LINKE hat das Gespräch deutlich gemacht: Die Debatte um einen Qualifikationsrahmen steht nicht kurz vor dem Abschluss, sondern ganz am Anfang. Umso irritierender ist es, dass die Bundesregierung noch in diesem Herbst auf Beschlüsse drängt. Es kann nicht sein, dass diese Debatte an der Öffentlichkeit vorbei im Schnelldurchritt und möglichst geräuschlos durchgedrückt wird. Stattdessen sollten wir uns die Zeit nehmen, gründlich zu diskutieren und Beschäftigte und Lernende unfassend beteiligen - denn sie tragen alle Risiken misslungener Schnellschüsse.


Quelle: Fraktion DIE LINKE im Deutschen Bundestag (04.09.2008)

Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 22.09.2008