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Prioritäten der tarifvertraglichen Regelung von Weiterbildung und die Leistungsfähigkeit unterschiedlicher Tarifvertragsmodelle

Meine Aufgabe auf dieser Tagung ist es, auf der Basis meiner Erfahrungen mit dem französischen Fondssystem die Weiterbildungstarifverträge der Telekom und der Textil- und Bekleidungsindustrie zu kommentieren – und zwar mit Blick auf künftige Tarifverhandlungen zu diesem Thema in Deutschland. Ich werde also nicht das französische Weiterbildungssystem insgesamt darstellen – eine solche Darstellung haben viele von Euch bereits gehört oder gelesen (zuletzt Drexel 2004), – sondern mich auf die deutschen Verhältnisse und sinnvolle Ziele von tarifvertraglichen Regelungen konzentrieren. Dabei werde ich Fragen der politischen Durchsetzung zunächst ausklammern und erst am Ende, in meinen Schlussfolgerungen, auf sie eingehen.

Zunächst eine Vorklärung: Wie und nach welchen Kriterien kann und soll man einen Weiterbildungstarifvertrag bewerten? Ein solcher Tarifvertrag kann und sollte ja Vieles regeln – aber Manches ist wichtiger als Anderes. Wenn man mit Hilfe eines Tarifvertrags Arbeitnehmerinteressen vertreten – und das heißt heute vor allem: besondere Gefährdungen verhindern – will, gibt es Prioritäten. Diese sollten von den Problemen her bestimmt werden, die die Arbeitnehmer am meisten gefährden. Ob und inwieweit ein Tarifvertrag die Möglichkeit bietet, diese Probleme zu beseitigen, ist meines Erachtens ein zentrales, wenn nicht das zentrale Kriterium für seine Bewertung.

Deshalb werde ich im Folgenden zunächst die vier brisantesten Probleme skizzieren, die prioritär eine angemessene Lösung in Tarifverträgen erfordern. Dann will ich zeigen, was die Tarifverträge der Textil- und Bekleidungsindustrie und der Telekom – von denen der erste ein Fondsystem schafft, der zweite nicht – im Hinblick auf diese Probleme leisten können und was sie nicht leisten können. Abschließend werde ich kurz einige aus meiner Sicht notwendige Perspektiven für künftige Weiterbildungstarifverträge ansprechen.


Prioritäre Probleme von Weiterbildung heute und morgen – prioritäre Regelungserfordernisse

(1) Ein erstes unabdingbares Regelungserfordernis muss die Aufbringung der notwendigen Finanz- und Zeitressourcen für Weiterbildung durch die Unternehmen (einzeln oder als Kollektiv) und/oder durch den Staat sicherstellen. Die Entlastung der Arbeitnehmer vom finanziellen und zeitlichen Aufwand für Weiterbildung muss den zentralen Grund dafür beseitigen, dass viele Arbeitnehmer nicht an Weiterbildung teilnehmen – nicht den einzigen Grund, aber einen besonders gewichtigen. Ihn zu beseitigen würde die Weiterbildung der Arbeitnehmer und die weiterbildungspolitische Kompetenz der Gewerkschaften ein gutes Stück weiterbringen.

Dies als prioritäres Regelungserfordernis zu benennen steht natürlich im Widerspruch zu dem, was heute Arbeitgeber, Politiker und auch manche Wissenschaftler empfehlen: im Widerspruch zum Prinzip der „Eigenverantwortung“ des einzelnen Arbeitnehmers für seine Weiterbildung und für ihren Finanz- und Zeitaufwand; im Widerspruch aber auch zum Prinzip der „Ko-Investition“ des Arbeitnehmers, das eine teilweise Übernahme dieser Auf wände durch ihn vorsieht. Lasst mich angesichts dieses Widerspruchs das von mir als prioritär eingeschätzte Regelungserfordernis etwas genauer begründen.

Im Jahr 2002 haben Weiterbildungsteilnehmer im Durchschnitt 502 Euro und 133 Freizeitstunden für Weiterbildung aufgebracht (Beicht, Krekel, Walden 2004). „Eigenverantwortung“ der Arbeitnehmer für Weiterbildung und Koinvestition scheinen also ganz gut zu funktionieren und keiner Regelung zu bedürfen. Diese weitverbreitete Einschätzung enthält jedoch einen dreifachen Denkfehler:

Erstens ist es vielen Menschen gar nicht möglich, den Aufwand für Weiterbildung in „Eigenverantwortung“ oder „Koinvestition“ zu übernehmen – deshalb werden sie durch diese Form der Lastenzuordnung von Weiterbildung ausgeschlossen. Es gibt eine große Gruppe von Menschen, die eigentlich besonders dringlich Weiterbildung bräuchten, aber überwiegend aus Zeit- und Geldgründen nicht an Weiterbildung teilnehmen. Nach Erhebungen von BIBB und Infas im Auftrag der Kommission Finanzierung Lebenslangen Lernens haben in dem Jahr zwischen September 2001 und August 2002 insgesamt 32% der erwerbsnahen Personen nicht an Weiterbildung teilgenommen – bei einer sehr breiten Definition von Weiterbildung, die auch informelle und selbst organisierte Formen des Lernens einbezog und folglich vergleichsweise hohe Teilnehmerquoten aufwies. Mehrheitlich war die Weiterbildungsabstinenz dieser 32% kein Zufallsergebnis – 80% dieser Gruppe (d.h. gut 25% aller erwerbsnahen Personen) hatte sich auch in den vorhergegangenen 5 Jahren nicht weiterqualifiziert (Beicht, Schiel, Timmermann 2004). Infas hat auch den harten Kern dieser Gruppe – die Personen, die bislang noch nie an einer (ebenso weit definierten) Weiterbildung teilgenommen haben – ermittelt: Aktuell sind das 13 % der Personen im erwerbsfähigen Alter (Schröder u.a. 2004, zitiert nach Expertenkommission 2004).

Bei den Nicht- bzw. Nie-Teilnehmern handelt es sich nach allen einschlägigen Untersuchungen typischerweise um Personen, die in ihrer Arbeitsmarktposition besonders gefährdet sind, also eine regelmäßige Aktualisierung und Weiterentwicklung ihrer Qualifikation eigentlich dringend bräuchten, wenn sie nicht in die wachsende Gruppe der Langzeitarbeitslosen einmünden sollen: Personen mit niedrigem Bildungsabschluss und vor allem niedrigem oder keinem Berufsbildungsabschluss, Personen mit niedrigem Beschäftigungsstatus (Arbeiter, generell Arbeitnehmer mit ausführender Tätigkeit), Arbeitnehmer aus Betrieben mit weniger als 250 Beschäftigten und Personen mit Migrationshintergrund.

Natürlich gibt es verschiedene Gründe, weshalb Menschen nicht an Weiterbildung teilnehmen, vielfach kommen mehrere zusammen. Jedoch sind Kosten- und Zeitprobleme besonders gewichtige Gründe für Weiterbildungsabstinenz - sei es, dass sie Teilnahme schlicht unmöglich machen, sei es, dass sie das Verhältnis von Aufwand und Nutzen so ungünstig ausfallen lassen, dass man sich nicht weiterqualifiziert. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass unter den Nicht-Teilnehmern Personen mit besonderen finanziellen und Zeitproblemen – Personen mit niedrigem Einkommen, Frauen mit kleinen Kindern oder anderen Betreuungsaufgaben etc. – ein besonders großes Gewicht haben. Das zeigen aber auch Befragungen von Nicht-Teilnehmern: 51% begründen ihr Verhalten (u.a.) damit, dass sie keine Zeit für Weiterbildung haben, 41% erklären, Weiterbildung sei neben ihrer täglichen Arbeit und neben ihren privaten Pflichten eine zu hohe Belastung; und nicht weniger als 59% lehnen Weiterbildung ab, wenn sie dadurch finanziell belastet werden (Beicht, Schiel, Timmermann 2004). Um das Finanzproblem in seinem Umfang richtig einzuschätzen, muss man z. B. bedenken, dass etwa 20 % der Bevölkerung verschuldet sind; die Gruppe derer, die zwar keine Schulden, aber auch keine Reserven zur Finanzierung von Weiterbildung haben, ist sicher noch einmal wesentlich größer.

Analoges gilt für die Weiterbildungszeit: Beträchtliche Teile der Arbeitnehmerschaft können schlicht keine freie Zeit für Weiterbildung einbringen, sei es, weil sie ihre freie Zeit für Überstunden, Zweitjob und/oder Eigenleistungen für eine sparsame Haushaltsführung einsetzen müssen, sei es, weil ihre von Erwerbsarbeit freie Zeit voll durch die Versorgung von Kindern und Älteren beansprucht wird, oder sei es, weil sie diese Zeit angesichts wachsenden Stresses für ihre Regeneration brauchen, wenn sie nicht vorzeitig ihre Arbeitsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen verlieren sollen.

Alle diese Daten und Informationen zeigen: Es geht nicht nur um eine kleine „Randgruppe“.

Zweitens sind die Zahlen der nicht mit Weiterbildungsaufwand belastbaren Nicht- bzw. Nie-Teilnehmer nicht statisch zu sehen: Zum einen ist davon auszugehen, dass viele Arbeitnehmer die Übernahme von Zeit und Kosten, die in den eingangs erwähnten durchschnittlichen „Eigenbeiträgen“ von 502 Euro und 133 Freizeitstunden zum Ausdruck kommt, zwar einmal, zweimal, vielleicht auch fünfmal ermöglichen können und akzeptieren, aber nicht kontinuierlich immer wieder und auf Dauer. Weiterbildungsabstinenz wird also allein schon deshalb steigen. Zum anderen wird dies umso mehr der Fall sein, je mehr die Betriebe Kosten und Zeitaufwand auf die Arbeitnehmer verlagern, wie in den letzten Jahren zunehmend der Fall; damit wird für immer mehr Arbeitnehmer die Hürde allzu hoch. Und nicht zuletzt lassen natürlich auch Reallohnsenkungen und Verlängerung der Arbeitszeit diese Hürden für immer mehr Arbeitnehmer zu hoch werden.

Die Zahl der Nicht- bzw. Nie-Teilnehmer wird also in Zukunft deutlich ansteigen.

Drittens beschränkt sich das Problem nicht auf Weiterbildungsabstinenz. Nur ca. 40% der Befragten nahmen an formalisierter Weiterbildung teil (ebd.) – also an dem Typ von Weiterbildung, der unabdingbar ist für die theoretische Unterfütterung und die Einordnung des Gelernten in einen größeren Zusammenhang, für die Erweiterung der beruflichen Kompetenz über den konkreten Arbeitsplatz und Arbeitsprozess hinaus etc., also für eine gewisse Zukunftsträchtigkeit der Qualifikation und für die Sicherung von Mobilitätschancen auf dem Arbeitsmarkt.

Auch die hierin zum Ausdruck kommende Tendenz zu kurzatmiger, auf Anpassung an den gegenwärtigen Arbeitsplatz beschränkter Qualifizierung wird aus den genannten Gründen zunehmen.

Zwischenfazit: Wir stehen also vor umfangreicher Weiterbildungsabstinenz und ähnlich umfangreichen Defiziten der Weiterbildungsteilnahme im Hinblick auf Häufigkeit und Qualität. Und diese Probleme werden aus einer Mehrzahl von Gründen in den vor uns liegenden Jahren dynamisch anwachsen. Der Bericht der Kommission für die Finanzierung Lebenslangen Lernens konstatiert aus volkswirtschaftlicher Sicht das deutliche Risiko einer systematischen Unterinvestition in die laufende Erneuerung und Anpassung der vorhandenen Qualifikationspotentiale (Expertenkommission 2004).

Welche Prioritäten für die Tarifpolitik der Gewerkschaften in Sachen Weiterbildung ergeben sich aus diesen Sachverhalten?

Die Gewerkschaften müssen vorausschauend in Rechnung stellen, dass sich die beschriebenen Tendenzen im Gefolge der absehbaren wirtschaftlichen Entwicklung und der neoliberalen Politik in Zukunft ausweiten und auch bisherige Kerngruppen der Arbeitnehmerschaft erfassen werden. Angesichts dieser Entwicklung reicht eine „kleine“ Lösung der Finanzierungs- und Zeitfrage, wie sie früher vielleicht durchaus sinnvoll gewesen wäre – z. B. Spezialregelungen für Ungelernte oder für Frauen mit kleinen Kindern – in Zukunft nicht mehr aus: Auf diese Weise ist die absehbare „Unterinvestition“ in Qualifikationserhalt und -entwicklung nicht zu verhindern.

Ebenso wenig zielführend ist bei genauerem Hinsehen die vielfach empfohlene und oft auch schon praktizierte Lösung, die Aufbringung von Weiterbildungskosten und –zeiten zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu splitten je nachdem, wer die jeweilige Weiterbildung „veranlasst“ hat und/oder wem sie „nutzt“: Erstens sind diese Unterscheidungen in der übergroßen Mehrheit der Fälle kaum praktikabel, eine Abgrenzung zwischen den Interessen ist oft nicht möglich. Zweitens wissen wir alle, dass es in Krisenzeiten wie den heutigen den Betriebsleitungen ein Leichtes ist, einem Arbeitnehmer klarzumachen, dass die Teilnahme an dieser oder jener Weiterbildung nur in seinem Interesse liege – nämlich in seinem Interesse am Erhalt seines Arbeitsplatzes –, und dass er deshalb gut daran tue, sie selbst zu veranlassen. Diese Koinvestitionsformel, die scheinbar auf Gerechtigkeit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zielt, nutzt in Wirklichkeit die Angst des letzteren um seinen Arbeitsplatz aus. Durch Regelungen nach dieser Formel werden die Arbeitnehmer, insbesondere die oben angesprochenen Arbeitnehmergruppen, unter einen Druck gesetzt, dem sie auf die Dauer nicht standhalten können – mit der Folge, dass sie eben nicht an Weiterbildung teilnehmen, manche von vornherein nicht, manche nach einigen Versuchen, mitzuhalten, nicht mehr.


Notwendig ist also eine generelle Regelung, die die Finanzierung von Weiterbildung und die Bereitstellung von Weiterbildungszeit nicht den Arbeitnehmern auflädt. Will man allen Arbeitnehmern die notwendige Weiterbildung ermöglichen, ist eine Regelung erforderlich, die die für wachsende Teile der Arbeitnehmerschaft besonders wichtige Hürde „Geld und Zeit“ beseitigt.

Das ist im übrigen nicht nur eine Frage der Sicherung von Arbeitnehmerinteressen, sondern auch eine Frage der volkswirtschaftlichen Vernunft: Regelungen auf der Basis von „Eigenverantwortung der Arbeitnehmer für Weiterbildungsaufwand“ oder (in abgemilderter Form) von „Koinvestition“ verhindern die laufende Regeneration und den öfter notwendig werdenden Neuaufbau von Qualifikations- und Motivationsressourcen. Auch Arbeitgeber, die sich von der derzeit dominierenden kurzfristigen einzelbetrieblichen Sichtweise frei machen, müssten das Risiko einer dauerhaften Unterinvestition und einer Abwärtsspirale bei der Entwicklung der verfügbaren Qualifikationspotenziale durchaus erkennen können

Soweit die Sachverhalte, die dieses erste Regelungserfordernis künftiger Weiterbildungstarifverträge begründen.


(2) Das zweite unabdingbare Regelungserfordernis ist eine Absicherung von Finanz- und Zeitressourcen für Weiterbildung während Betriebskrisen und Restrukturierungsprozessen – also eine Abkopplung der Weiterbildungsausgaben und –aktivitäten von der jeweiligen wirtschaftlichen Situation des Unternehmens. Voraussetzungen für eine krisenunabhängige, ja eigentlich antizyklische Dimensionierung der Weiterbildungsaktivitäten zu schaffen ist unverzichtbar. Nur so kann Weiterbildung weiterhin die Aufgabe wahrnehmen, neben laufender Aktualisierung der Qualifikationspotentiale zur Bewältigung von Krisen und Restrukturierungsprozessen beizutragen. In dem Maße, in dem einerseits Zahl und Ausmaß von Betriebskrisen dramatisch zunehmen und andererseits die Mittel der Öffentlichen Hand für ihre Bewältigung dramatisch zurückgehen, müssen tarifvertragliche Regelungen eine Lösung für dieses Problem enthalten.


(3) Ein drittes Erfordernis ist ein Steuerungsmechanismus, der die Teilnahme an Weiterbildung nicht ausschließlich der Initiative des einzelnen Betriebs oder des einzelnen Arbeitnehmers überlässt. Natürlich sind individuelle Arbeitnehmer und Betriebe die zentralen Akteure des Weiterbildungsgeschehens und ihre aktuellen Interessen müssen die Chance zur Realisierung haben. Aber es müssen auch darüber hinausgehende Interessen zum Zuge kommen können – sozialpolitische Interessen, Brancheninteressen, Gruppeninteressen etc. –. Und es muss ein Steuerungsorgan geben, das solche Interessen in den Entscheidungsprozess einbringt und sie mit den Interessen der primären Weiterbildungsakteure abstimmt.

Weiterbildung ist kein für Dauerkonflikte geeignetes Feld – das wurde hier auch gestern schon verschiedentlich betont. Aber das bedeutet nicht, dass sich tarifpolitische Zielsetzungen der Gewerkschaften und Betriebsräte voll den aktuellen Zielvorstellungen der Arbeitgeber unterwerfen müssten; dies umso weniger, als diese Vorstellungen derzeit oft von besonderer Kurzsichtigkeit geprägt sind. Es kommt also darauf an, Voraussetzungen zu schaffen für die Ansteuerung einer zukunftsorientierten Weiterbildung: einen kontinuierlichen Weiterbildungsdialog zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung und das allmähliche Entstehen eines gemeinsamen Verständnisses der längerfristigen Erfordernisse der Weiterbildungspolitik – sowohl auf der Ebene der Branche als auch auf der Ebene des einzelnen Betriebs.

Sinnvollerweise werden solche Steuerungsaufgaben durch paritätisch besetzte Gremien auf Betriebs- und auf Branchenebene wahrgenommen: Sie haben sowohl die notwendigen Informationsgrundlagen als auch die notwendige Legitimation, um im (mehr oder minder konfliktuellen) Dialog immer wieder Konsens über aktuelle und absehbare Branchen- bzw. Betriebsprobleme und über Politiken zu ihrer Bewältigung herzustellen.


(4) Ein viertes Regelungserfordernis wird oft in einem tarifvertraglich verankerten individuellen Recht jedes Arbeitnehmers auf Weiterbildung gesehen. Ich bin da eher zögerlich: So lange die finanziellen und zeitlichen Ressourcen nicht für eine Nutzung dieses Rechts durch Alle reichen, würde es nur zu massiven Konkurrenzen zwischen den Arbeitnehmern führen - und im Zweifelsfall würden sich doch die bisher Begünstigten durchsetzen. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Entwicklung das Weiterbildungs-Recht in den Augen derjenigen diskreditieren würde, denen es eigentlich zugute kommen soll. Es gibt also zwei Voraussetzungen, damit ein solches Recht Sinn macht: Entweder muss ein Ressourcen-Volumen gesichert sein, das so groß ist, dass Geld und Zeit tendenziell für alle Ansprüche reichen. Oder es muss ein Verfahren vereinbart werden, das den Zugriff auf die Ressourcen auf sinnvolle und praktikable Weise regelt: z. B. per Quotierung nach bestimmten Kriterien oder per Festlegung von Pioritätenlisten durch Arbeitgeber und Arbeitnehmervertretung gemeinsam. Letzteres kann allerdings ein für die Arbeitnehmervertretung problematisches Vertretungsdilemma schaffen: Wie will man etwa zwischen der Förderung der gut organisierten Kerngruppen des Betriebs/der Branche und der Förderung der von Marginalisierung bedrohten Ungelernten entscheiden? Auf jeden Fall gilt: Je größer das Volumen der abgesicherten Weiterbildungsressourcen ist, desto eher ist ein individuelles Recht auf Weiterbildung sinnvoll.

Wie sind nun vor dem Hintergrund dieser prioritären Regelungserfordernisse die Tarifverträge der Telekom und der Textil- und Bekleidungsindustrie einzuschätzen?


Der zwischen Verdi und Telekom abgeschlossene Weiterbildungstarifvertrag

Der für die Beschäftigten der Telekom abgeschlossene Tarifvertrag zeigt eine für deutsche
Verhältnisse vergleichsweise sehr gute Regelung ohne eine Fondslösung.

(1) Die Stärken dieses Tarifvertrags in Stichworten:
  • In die Förderung einbezogen ist nicht nur die auf den jeweiligen Arbeitsplatz bezogene (die sog. betrieblich-fachliche) Weiterbildung, sondern in begrenztem Umfang auch die vorausschauende und Mobilität ermöglichende Weiterbildung (im Tarifvertrag als „berufliche Weiterbildung“ bezeichnet).

  • Die zeitlichen und finanziellen Ressourcen für Weiterbildung werden i. W. durch das Unternehmen bereitgestellt: Festgelegt sind Freistellung mit Lohnfortzahlung und Zeitausgleich für Weiterbildung in der Freizeit sowie die Übernahme der Weiterbildungskosten durch das Unternehmen. Auch wenn die zur Verfügung gestellten Ressourcen nicht unbegrenzt sind, bleiben den Arbeitnehmern damit doch größere Belastungen und auch die Auseinandersetzung um Koinvestitionsregelungen mit ihren uneindeutigen und manipulierbaren Unterscheidungskriterien erspart.

  • Der Tarifvertrag schafft paritätisch besetzte Gremien auf betrieblicher und Branchenebene, die jährlich im Rahmen der vom Unternehmen festgelegten Jahresbudgets gemeinsam Maßnahmen und zu fördernde Beschäftigtengruppen festlegen sollen. Es gibt also eine Steuerung, die über die Interessen und Initiativen des einzelnen Betriebes und des einzelnen weiterbildungsaktiven Arbeitnehmers hinausgehen kann, und ein gemeinsames Steuerungsorgan, dessen Existenz den Dialog zwischen Tarif- bzw. Betriebsparteien voraussetzt und damit die Entwicklung eines gemeinsamen Problemverständnisses fördern kann.

  • Und nicht zuletzt wurden verschiedene Rahmenbedingungen geschaffen, die die konkrete Durchführung von Weiterbildung begünstigen: aktive Informationspolitik des Unternehmens in Sachen Weiterbildung, die Ausstellung von Zeugnissen, die Berücksichtigung von weiterbildungsbedingten Abwesenheiten in der Personalplanung usw.

(2) Diesen sehr positiven Regelungen des Telekom-Tarifvertrags steht jedoch eine grundsätzliche Schwäche gegenüber: Das Weiterbildungsbudget wird jedes Jahr vom Unternehmen neu bestimmt und ist damit von dessen wirtschaftlicher Situation abhängig. In Krisen- und Restrukturierungsperioden ist eine Schrumpfung der Weiterbildungsressourcen vorprogrammiert. Das dürfte insbesondere für „Krisen-Verlierer“ unter den Arbeitnehmern zum Problem werden, wenn sie mit „Leistungsträgern“, die für die Fortexistenz des Unternehmens unverzichtbar sind, um knapp gewordene Ressourcen konkurrieren müssen.


Der zwischen IG Metall und der Textil- und Bekleidungsindustrie abgeschlossene Weiterbildungstarifvertrag

Der Tarifvertrag der Textil- und Bekleidungsindustrie hat ein Fondssystem festgelegt. Hier sieht das Profil der Stärken und Schwächen deutlich anders aus als bei dem eben diskutierten Tarifvertrag.

(1) Die Stärken:
Positiv ist zunächst, dass auch dieser Tarifvertrag die Arbeitnehmer vom Aufwand für Weiterbildung entlastet: Die Weiterbildungskosten trägt der durch Bildungsbeiträge der Unternehmen gefüllte und als Umlagesystem organisierte Branchenfonds, die Weiterbildungszeit trägt das einzelne Unternehmen in Form einer Freistellung in bestimmtem Umfang.

Positiv ist außerdem, dass dieses Umlage-System eine Abkopplung der verfügbaren Finanzmittel von der jeweiligen aktuellen wirtschaftlichen Lage des einzelnen Unternehmens bewirkt.

Positiv ist drittens die Verankerung eines paritätischen Gremiums, das die zentralen Steuerungshebel in der Hand hat: Die paritätische Kommission soll laut Tarifvertrag über die Förderbedingungen, über die zu fördernden Maßnahmen, über die Zuschusszahlung sowie u. U. über die Auswahl der zu fördernden Personen entscheiden. Diese Steuerungsfunktion der Kommission erlaubt es ihr im Prinzip, auch Interessen einzubringen, die über die Interessen des einzelnen Unternehmens und des einzelnen Arbeitnehmers hinausgehen. Dies setzt eigentlich einen kontinuierlichen Dialog der Tarifparteien über die Weiterbildungserfordernisse der Branche und über die mittelfristige Politik zu ihrer Sicherstellung voraus; ein Dialog, der zu einer zunehmenden Institutionalisierung von branchenbezogener Weiterbildungspolitik führen könnte.

Allerdings zeigen die Informationen zur Umsetzung dieses Tarifvertrags, dass man in dieser Branche offenbar einen solchen Dialog umgeht, indem jede Tarifpartei allein und „frei“ über die Hälfte der Mittel des Umlage-„Topfes“ verfügt. Im Umsetzungsprozess wurde also eine strukturelle Stärke des Fondsmodells verschenkt.

(2) Den Stärken des Tarifvertrags steht als Schwäche vor allem der sehr bescheidene Umfang der durchgesetzten Rechte und Mittel gegenüber:
  • Die Freistellungsverpflichtung der Unternehmen ist auf 2% ihrer Beschäftigten pro Jahr beschränkt; das ist sehr wenig und muss deshalb zu erheblicher Selektivität führen.

  • Die im Tarifvertrag festgelegte Konzentration der Förderung auf Weiterbildungsmaßnahmen mit einer Dauer von bis zu einer Woche klammert umfangreichere Qualifizierungsbedarfe und anspruchsvollere Weiterbildung aus.

  • Basis für diese Beschränkungen ist natürlich die sehr bescheidene Höhe des Bildungsbeitrags der Unternehmen und damit des Gesamtvolumens der Umlage. Dieser Beitrag soll allerdings ab 2005 verdoppelt und 2006 noch einmal erhöht werden.

Fazit:
Natürlich ist ein direkter Vergleich der beiden Tarifverträge und ihrer materiellen Ergebnisse nicht sinnvoll. Bei der Bewertung des Tarifvertrags der Textil- und Bekleidungsindustrie muss man die besonderen Bedingungen dieser Branche – ihren bescheidenen Umfang, ihre klein- und mittelbetriebliche Struktur, ihre langjährig krisenhafte Lage, die Situation der Arbeitnehmervertretung etc. – in Rechnung stellen.

Mit dieser Einschränkung zeigt der Tarifvertrag der Textil- und Bekleidungsindustrie jedoch einige systematische Stärken einer Fondslösung, auch wenn diese – vor allem wegen der bescheidenen Mittel der Umlage – de facto nur in begrenztem Umfang genutzt werden.

Darüber hinaus zeigt die für 2005 und 2006 vorgesehene Anhebung des Bildungsbeitrags und damit der verfügbaren Gesamtressourcen ein wichtiges Merkmal von Tarifverträgen zu Fondslösungen, das auch in Frankreich immer wieder zu beobachten ist: ihre Offenheit für schrittweise Verbesserungen, wann immer sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Branche und/oder die Durchsetzungspotenziale ihrer Gewerkschaft verbessern und/oder wenn die Arbeitgeber selbst die Vorteile, die Fonds auch für sie haben, zunehmend erkennen.


Einige Schlussfolgerungen für künftige Weiterbildungstarifverträge – Ziele und Durchsetzungsaspekte

(1) Eine erste Schlussfolgerung ist, das Gesagte zusammenfassend: Angesichts der aktuellen und absehbaren Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt wären im Prinzip Tarifverträge, die Fondssysteme mit Pflichtbeiträgen der Unternehmen und paritätisch besetzten Gremien zu ihrer Steuerung vorsehen, strukturell überlegen gegenüber noch so fortschrittlichen tarifvertraglichen Lösungen ohne Umlage: Fondssysteme beseitigen die wichtigsten Hürden, die auf dem Arbeitsmarkt besonders gefährdete Personen von Weiterbildung abhalten. Und sie erlauben zudem ein praktikables Andocken von zusätzlichen Mechanismen zur dauerhaften Förderung von Weiterbildung, so insbesondere die besondere Förderung von bestimmten Kategorien von Erwerbspersonen oder Weiterbildungen, aber auch ein individuelles Recht auf Weiterbildung und dessen Kumulation über mehrere Jahre, etc. (für das Beispiel des französischen Weiterbildungssystems vgl. Drexel 2004).

(2) Eine zweite Schlussfolgerung besteht im nachdrücklichen Hinweis darauf, dass auch zunächst eher bescheidene Fondslösungen offen sind für spätere Verbesserungen. Auf solche Verbesserungsmöglichkeiten könnten Gewerkschaften setzen, wenn sie unter den gegenwärtigen sehr ungünstigen Durchsetzungsbedingungen mit einem solchen Tarifvertrag beginnen wollen: Die festgelegten Fondsbeiträge und der Umfang der geregelten Freistellungen könnten in späteren Tarifverträgen erhöht werden, sie könnten ein Recht auf Weiterbildung schaffen und Voraussetzungen wie auch Anreize zu seiner tatsächlichen Nutzung verankern usw.

(3) Allerdings – dritte Schlussfolgerung – darf man es mit der Bescheidenheit bei einem ersten Tarifvertrag mit Fondslösung wohl auch nicht übertreiben: „Bescheidene“ Start-Lösungen sollten nicht verhindern, dass die positiven Auswirkungen einer Fondslösung klar erkennbar zum Tragen kommen, dass also die besondere Effizienz eines Fondssystems und die Sinnhaftigkeit einer darauf gerichteten Politik der Gewerkschaften deutlich sichtbar werden. So wäre es wohl sehr problematisch, eine weitreichende Koinvestitions-Regelung – die organisatorisch ja durchaus mit einem Fonds verknüpfbar ist – zu akzeptieren oder gar anzubieten, nur um jetzt „irgendeine“ Fondslösung durchzusetzen: Eine solche Fondslösung könnte die geschilderten Defizite der Weiterbildungsteilnahme kaum beseitigen (der Effizienz-Aspekt); und die darauf setzende Tarifpolitik der Gewerkschaften wäre für die Mehrheit der Arbeitnehmer wenig attraktiv (der politische Aspekt). Zudem wären bestimmte Verbesserungsmöglichkeiten blockiert: Wenn eine Koinvestitions-Lösung erst einmal in die Praxis umgesetzt ist, dürfte sie später auch unter besseren Rahmenbedingungen kaum noch zu beseitigen sein.

(4) Eine vierte, besonders komplexe Schlussfolgerung ist abschließend zu nennen: Tarifverträge, die für einzelne Branchen Fondslösungen vereinbaren, werden – auch wenn sie „gut“ sind – auf Dauer nicht ausreichen: Die Branchen sind bekanntlich extrem unterschiedlich: in ihrer Betriebsgrößenstruktur, in der Weiterbildungstradition ihrer Unternehmen, in ihrer Wirtschaftskraft und der davon mitbestimmten Leistungsfähigkeit im Hinblick auf Weiterbildung und nicht zuletzt in der Durchsetzungsfähigkeit ihrer Arbeitnehmervertretungen. Ausschließlich auf Tarifverträge zu setzen würde ein zunehmendes Auseinanderdriften der Qualifizierungsmöglichkeiten der Arbeitnehmer in den verschiedenen Branchen vorprogrammieren; ein Auseinanderdriften, das auf Dauer weder wirtschaftlich noch politisch akzeptabel ist. Außerdem würden infolge der zunehmenden Tarifflucht von Unternehmen viele Arbeitnehmer gänzlich herausfallen.

Früher oder später ist also eine branchenübergreifende Regelung notwendig, die bewährte Elemente der verschiedenen tarifvertraglichen Lösungen aufgreift, ggfs. Verbessert und ergänzt – z. B. durch einen Mechanismus zum Ausgleich zwischen den verschiedenen Fonds – und sie allgemeinverbindlich macht. Eine solche branchenübergreifende Regelung kann ein branchenübergreifender Tarifvertrag sein oder ein Weiterbildungsgesetz oder eine Kombination von beidem. Sie würde die bestehenden Branchenregelungen nicht überflüssig machen, sondern eine Art Mindestregelung darstellen, vor der ausgehend in den folgenden Jahren weiterführende Lösungen einzelner Branchen immer wieder zur Lokomotive für den Geleitzug unterschiedlich weit entwickelter Branchenregelungen
werden.

So etwa läuft es in Frankreich seit über 30 Jahren. Dort werden seit Anfang der 70er Jahre, als (auf der Basis einzelner rudimentärer Branchenregelungen) ein branchenübergreifendes Abkommen zwischen den Sozialparteien und ein entsprechendes erstes Weiterbildungsgesetz geschaffen wurden, immer wieder die bewährten Elemente von Branchentarifverträgen in branchenübergreifenden Abkommen zusammengefasst, ergänzt und verallgemeinert. Und die Inhalte dieser Abkommen werden dann i. d. R. weitgehend unverändert in ein neues Weiterbildungsgesetz übernommen, das Allgemeinverbindlichkeit schafft und die Basis darstellt für Weiterentwicklungen in späteren Branchentarifverträgen (Dubar 2000; Drexel 2004).

Auch in Deutschland ist m. E. eine langfristige Entwicklungsperspektive des Instruments tarifvertraglicher Regelungen von Weiterbildung im allgemeinen und von Fondslösungen im Besonderen unverzichtbar. Angesichts der derzeitigen Durchsetzungsbedingungen, die die Gefahr eines „Verheizens“ eines an sich sinnvollen und unter besseren Rahmenbedingungen durchaus durchsetzbaren Forderungskonzepts beinhaltet, muss diese Langfristperspektive strategisch einkalkuliert werden.

Eine schwierige Situation und eine schwierige Aufgabe für Tarifpolitik – ich wünsche Euch einen langen Atem und viel Erfolg!


Quelle: Dokumentation: Berufliche Weiterbildung – Eine Gestaltungsaufgabe für Tarifverträge

Sie können die vollständige Dokumentation hier als pdf-Datei herunterladen.


Verweise zu diesem Artikel:
Dieser Beitrag wurde zuletzt aktualisiert am 18.09.2007